Kain erschlägt Abel. Der Albtraum schlechthin, direkt am Anfang des Alten Testaments ausführlich beschrieben. Ein Streit eskaliert und ein Bruder erschlägt den anderen. Wenn wir in der Bibel weiterblättern, stoßen wir auf eine Vielzahl großer und kleiner, mehr oder weniger eskalierender Konflikte. Und wenn wir heute die Nachrichten schauen, werden wir auch da nicht verschont von Berichten über Streit, Auseinandersetzungen und daraus resultierender Gewalt.
Im krassen Gegensatz dazu die Worte Jesu: Liebe Gott. Und deinen Nächsten wie dich selbst.
Ein Spannungsfeld - und eine große Herausforderung in der Familie, in Jugendarbeit und Schule und darüber hinaus. Denn vom wem sonst, wenn nicht von uns Eltern, LehrerInnen, Mitarbeitenden, Erwachsenen sollten Kinder und Jugendliche vorgelebt bekommen, wie das geht. Frieden statt Eskalation. Den Nächsten lieben, aber auch sich selbst?
Wenn wir über den Umgang mit Streit und Konflikten nachdenken, ist dies immer eine Frage an jeden Einzelnen persönlich. Was lebe ich vor? Wie ist mein Umgang mit Streit und Konflikten? Was lernen die Kinder und Jugendlichen in meinem Umfeld, wenn sie mich beobachten?
Wollen wir die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen dazu anleiten, sich für das einzusetzen, was dem Frieden und dem Aufbau unserer Gemeinschaft dient (Römer 14,19), dann kommt es auf unser gelebtes Vorbild an, denn das spricht immer am lautesten.
Im Folgenden skizziere ich Grundhaltungen, die es ermöglichen können, dass wir trotz aller Differenzen enger in Gemeinschaft finden und unsere Beziehungen, trotz oder gerade durch konstruktiv bearbeitete Konflikte, an Tiefe gewinnen. Es sind auch Grundhaltungen, die für Kinder und Jugendliche für eine gesunde Entwicklung notwendig sind und in denen das Dreifachgebot der Liebe konkret wird.
Was, wenn es gar nicht das Ziel wäre, dass immer Harmonie herrscht? Was, wenn es ganz natürlich und unvermeidbar wäre, dass im Miteinander immer wieder Dissonanzen und Reibungen entstehen? Gott hat uns in großer Kreativität geschaffen. Jeder von uns hat andere Begabungen und Begrenzungen, Bedürfnisse und Wünsche. Jeder hat andere Lebenserfahrungen und Blickwinkel aufs Leben. Dadurch ist es in Beziehungen natürlich, dass Reibung entsteht. Vielleicht gilt es, genau das zu akzeptieren. Wenn wir anfangen, diese unveränderbare Tatsache anzunehmen, können Kraft und Kreativität frei werden, um konstruktiv und lösungsorientiert mit den vermeintlichen Widrigkeiten umzugehen. Vielleicht geht es nicht darum, die Abkürzung zu nehmen, die Konflikt und Streit ausspart und direkt zu Friede, Freude, Eierkuchen weiterspringt. Vielleicht bedeutet dieses Einssein, von dem Jesus in Johannes 17 spricht, genau das: wir erkennen uns an in unserer Unterschiedlichkeit, mit allem Konfliktpotenzial, das darin liegt. Und dann bleiben wir trotzdem aneinander dran. Wir halten uns gegenseitig aus, hören uns zu, suchen und ringen um einen gemeinsamen Weg, der für alle machbar ist. Wäre es nicht vorstellbar, dass gerade darin Gott sichtbar wird und alle Welt ihn erkennen kann?
Ein kleines Gedankenexperiment kann helfen, im Streit die Perspektive auf unser Gegenüber, und damit auch auf unsere Handlungsmöglichkeiten, zu erweitern.
Stell dir drei Personen vor, die Rücken an Bauch in einer Reihe hintereinanderstehen.
Alle drei symbolisieren einen anderen Aspekt: Die Person vorne steht für das Verhalten eines Menschen. An zweiter Stelle steht die Person an sich und an dritter Stelle werden die Bedürfnisse repräsentiert.
Wenn du als Beobachter aus einer Position direkt vor der ersten Person frontal auf die Reihe schaust, siehst du nur diese erste, vorne stehende Person. Die Personen dahinter sind so gut wie verdeckt. Auf einen Konflikt übertragen siehst du aus dieser Perspektive ausschließlich das Verhalten deines Gegenübers. Wenn du gedanklich jetzt aber ein bisschen nach links oder nach rechts rückst, siehst du plötzlich viel mehr. Du siehst drei Personen, die hintereinanderstehen. So verhält es sich auch, wenn du dein Gegenüber in einem Konflikt aus einer anderen Perspektive betrachtest.
Du kannst dann erkennen, dass das offensichtliche Verhalten nicht alles ist, was dein Gegenüber ausmacht. Dann siehst du an zweiter Stelle eine Person, die ein Verhalten zeigt. Und dieses Verhalten ist motiviert durch die Bedürfnisse deines Gegenübers. Die Bedürfnisse eines Menschen sind ein Schlüssel für das Verstehen seines Verhaltens.
Marshall B. Rosenberg, Psychologe und Mediator sowie Entwickler des Konzepts der Gewaltfreien Kommunikation benennt neun Grundbedürfnisse eines jeden Menschen. Diese sind das Bedürfnis nach Selbsterhalt und physischer (körperlicher) Existenz, nach Sicherheit, nach Empathie (beispielsweise danach, gesehen und gehört zu werden), das Bedürfnis nach Kontakt und Zugehörigkeit, nach Erholung und Spiel, nach Autonomie und Integrität sowie die Bedürfnisse nach Würde und Sinn, nach Feiern und nach Spiritualität.
Mit dieser Checkliste im Hinterkopf können wir in Konfliktsituationen auf unser Gegenüber zugehen. Es werden Fragen möglich wie: Welche Bedürfnisse könnten in dieser Situation für mein Gegenüber eine Rolle spielen und sein Verhalten verständlich machen?
Außerdem kann mit dieser Sichtweise, der Trennung von Person und Verhalten, schwieriges Verhalten besprochen werden, ohne dem Gegenüber das Gefühl zu geben, ihn als Mensch abwerten zu wollen.
In unserer Gesellschaft scheint es Konsens zu sein, dass es gute und schlechte Gefühle gibt. Im Allgemeinen werden Gefühle, die mit Konflikten in Zusammenhang stehen, eher als negativ bewertet. Wut, Ärger, Zorn und Aggressivität sollen möglichst vermieden oder ganz schnell eliminiert werden. Gefühle jeglicher Art gehören aber untrennbar zu unserem Menschsein dazu und sind wertvolle Hinweisgeber darauf, wie es uns in bestimmten Situationen geht.
Gefühle haben außerdem die Tendenz, sich zu unpassenden Zeiten und Orten zu entladen, vor allem je länger man versucht, sie unter Verschluss zu halten.
Für Kinder und Jugendliche ist es ein Lernfeld, mit ihren vielfältigen Gefühlen klarzukommen, sie zu regulieren und als hilfreiche Hinweisgeber kennen und nutzen zu lernen. Wenn nun die Botschaft ist, dass bestimmte Gefühle verboten sind, bleibt Kindern und Jugendlichen nur die Möglichkeit, sie möglichst verborgen zu halten. Damit nehmen wir ihnen die Chance, mit unserer Begleitung einen gesunden Umgang damit zu lernen. Kinder sollen lernen, dass es gut ist, auf die eigene Wut oder andere Gefühle zu schauen. Was macht mich wütend? Ist ein Grundbedürfnis von mir nicht gestillt? Werden meine Grenzen überschritten? Bin ich überfordert? Hat es mich verletzt, wie ich behandelt wurde?
Wenn Kinder und Jugendliche lernen, ihre Gefühle zu übersetzen und zu erkennen, welches ihrer Bedürfnisse nicht gestillt ist, dann können sie in einem nächsten Schritt lernen, ihre Bedürfnisse zu artikulieren und auf eine Art und Weise, die dem Frieden dient, für sich selbst einzustehen. Kinder lernen so, was es bedeutet, sich selbst zu lieben. Sich selbst, mit den eigenen Bedürfnissen und Begrenzungen lieben zu lernen und die innere Freiheit zu haben, den eigenen Raum für sich in Anspruch zu nehmen.
So wie es immer Konflikte geben wird, so wird es immer der Fall sein, dass Menschen Fehler machen und andere verletzen. Das lässt sich nicht vermeiden, so sehr man sich auch in die Mitmenschen hineinzudenken versucht. Dennoch gibt es eigentlich eine einfache Möglichkeit, aus Verletzung, Trennung und Entfremdung wieder hinein in die Gemeinschaft zu finden. Allerdings muss dieser Schritt immer wieder von Erwachsenen vorgelebt werden, denn Kinder und Jugendliche schauen sich das Verhalten ihrer Bezugspersonen ab.
Der Satz „Es tut mir leid, dass ich dir weh getan habe. Bitte vergib mir“ ist wie ein Code, um verschlossene Türen wieder zu öffnen. Eine offene Fehlerkultur in unseren Familien, Schulen, Leitungsgremien und Gruppen ist dafür eine wichtige Grundhaltung. Fehler sind unvermeidbar, sie sind Chancen für Lernen und Entwicklung.
Vielleicht hat mancher jetzt die Sorge, wie man es denn schaffen kann, beim „guten Streiten“ zu bleiben. Diese Sorge ist berechtigt, denn es ist nachgewiesen, dass starke Emotionen zu Handlungen führen, die man so nicht möchte und man durch sie die Kontrolle über das eigene Agieren verliert. Einerseits gibt es die symmetrische Eskalation[1]: Beide Konfliktparteien wollen unbedingt gewinnen, keiner gibt nach und der Konflikt steigert sich und eskaliert.
Genauso gibt es aber auch die komplementäre Eskalation (ebd.): In Konfliktsituationen, die derart eskalieren, gibt ein Konfliktteilnehmer wiederholt nach. Dieses Nachgeben ist häufig motiviert durch eigene Angst oder Unsicherheit.
Wenn man jene Formen der Eskalation kennt, hat man einen Rahmen, innerhalb dessen Grenzen Konflikte auf gute Art und Weise ausgetragen werden können.
Um diesem Ziel näher zu kommen, kann jeder für sich Verantwortung übernehmen und zum Beispiel im Gespräch mit Menschen, die darin geschult sind, den eigenen, starken Gefühlen, die in Streitsituationen zu eskalierendem Verhalten beitragen, auf den Grund gehen. Ein erster Schritt könnte auch sein, sich am Psalmbeter aus Psalm 139 ein Beispiel zu nehmen und diese Bitte an Gott zu richten:
„Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz! Verstehe mich und begreife, was ich denke!
Sieh doch, ob ich auf einem falschen Weg bin, und führe mich auf dem Weg, der Zukunft hat!“
Paulus sagt: „Wir wollen uns für das einsetzen, was dem Frieden und dem Aufbau unserer Gemeinschaft dient“ (Römer 14,19). Dem schließe ich mich sehr gerne an – weil ich erlebe, wie wichtig für Kinder und Jugendliche und auch für mich tragfähige Beziehungen sind, die Konflikte aushalten und an Tiefe gewinnen, wenn man im Streit drangeblieben ist und neu zueinander findet. Was könnte für dich persönlich ein konkreter Schritt sein, um dich Paulus anzuschließen?
Ideen zum Umgang mit einem konkreten Konflikt:
Die Gefühle abkühlen lassen, bis man wieder klar denken kann und/oder seinen ganzen Mut zusammennehmen und sich vornehmen, den Konfliktpunkt anzusprechen, anstatt ihn hinunterzuschlucken.
Sich miteinander an den Tisch setzen oder auf den Weg machen.
Jeder darf seine Sicht der Dinge schildern: Was hat mich gekränkt, geärgert, wütend oder aggressiv gemacht? Welches meiner Bedürfnisse wurde nicht berücksichtigt? Wichtig ist, dass der jeweils andere sich auf das Zuhören konzentriert.
Jeder versucht, sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen. Wie hätte ich mich an deiner Stelle gefühlt?
Jeder sagt, wie es ihm danach geht: Fühle ich mich gehört? Ärgere ich mich immer noch? Brauche ich eine Wiedergutmachung?
Gibt es Punkte, für die ich um Verzeihung bitten möchte?
Ideen und Gedanken teilweise aus:
Lemme, M. u. Körner, B. (2019): Neue Autorität in Haltung und Handlung. Ein Leitfaden für Pädagogik und Beratung. Heidelberg (Carl-Auer).
[1] Vgl. Watzlawick und Werk
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